Lektion aus der ersten Nacht: Die Luftmatratze macht auf dem Linoleum bei jeder Drehung ein widerliches Geräusch. Wäre einer von uns empfindlicher im Schlaf, hätten wir nicht so gut geschlafen wie wir es haben. Das ist übrigens ein Tipp für alle Hiker mit leichtem Schlaf.
Ich stehe auf, Mina schnarcht noch wie ein Kätzchen in ihrem teewurstfarbenen Schlafsack. Ich gehe runter, um den Trocknungsgrad der Sachen zu überprüfen. Mina hat ihre nassen Socken in die Stiefel gesteckt. Ich entscheide mich, den Ofen wieder anzustellen und die Stunden bis zum Aufwachen der anderen noch zur Trocknung zu nutzen. Ich gehe Holz hacken, hole Wasser und fange an, abzuwaschen. Auch das Geschirr von Jacob und Helene – warum Wasser vergeuden?
Ich lese im Hüttenbuch. Es ist voller Heldengeschichten, denke ich mir. Man fühlt jeden Eintrag, jeden Tipp, jede Erfahrung. Vor ein paar Tagen war die letzte Person hier, die wie ich ohne Unterlage auf dem Linoleumboden geschlafen hat. Gleiche Erfahrung, nur ein leichterer Schlaf. Es fühlt sich an, als wäre man über die Jahre und Kilometer hinweg mit den Menschen verbunden.
Ich schaue mir die Route nochmal über Komoot an und stelle fest, dass ich mit Kontaktlinsen besser sehen würde. Hier gibt es keinen Spiegel. Ich habe es in meinem Leben noch nie ohne Spiegel geschafft, die Dinger einzusetzen. Mina schläft noch und bekommt von diesem erniedrigenden Schauspiel nichts mit.
Jacob und Helene scheinen wach zu werden. Ich setze unten das Porridge auf und wecke Mina. Helene freut sich über die muckelige Wärme, die inzwischen wieder herrscht. Wir sprechen nochmal über unsere Routen. Die beiden haben sich für eine verkürzte Variante entschieden, da sie nur bis Sonntag Zeit haben. Wir diskutieren nochmal das Cold Soaking, um den Reis gar zu kriegen.
Mina kommt mit Oli (ihr Kuschelaffe) die Treppe runter, das Porridge duftet verführerisch nach Schokolade. Mina stürzt sich auf die braune Verheißung von Endorphinen. Nach 13,2 Sekunden höre ich Scharren auf dem Aluboden – sie hat noch nie in ihrem Leben so schnell gegessen. Und ehrlich gesagt, das Zeug war heiß wie der Inhalt von McDonald’s Apfeltaschen. Ja, genau, die Dinger, die scheinbar mit Lava befüllt werden.
Da wir wegen des Trocknens viel ausgepackt haben, müssen wir das komplette Setup neu packen. Aber das gibt uns auch die Gelegenheit, zu optimieren. Wir haben jetzt schon ein kleines Problem mit der Wasserversorgung. Die Karte im Forststeigführer zeigt uns, dass ungefähr 2 km hinter dem Taubenteich ein Abzweig zu einer Quelle führt. Wir haben noch 700 ml Wasser.
Der Nässeschutz kommt in Minas Außenfach, um schnellen Zugriff zu gewährleisten. Minas Bodenfach wird mit den Kleidungsbeuteln und der Luftmatratze ausgefüllt. Lebensmittel kommen bei mir on top, aber ganz oben das Tarp. Auch wenn der Wetterbericht von einem sonnigen Tag spricht, bin ich lieber besser vorbereitet.
Es ist schon spät, vielleicht 9 oder 10 Uhr, und wir schultern die Rucksäcke. Mina setzt noch die letzten Striche in ihrem Kunstwerk im Hüttenbuch. Noch schnell eine Videonachricht an Mama und wir verabschieden uns von der Hütte. Am Horizont sehen wir noch Jacob und Helene, und im nächsten Augenblick sind sie verschwunden.

Das Gras ist immer noch sehr nass. Wir versuchen, die Spurrinnen zu nehmen, um nicht gleich wieder in nassen Schuhen zu laufen. Viel offenes Gelände, überwucherte Forstwege. Hier und da steht Wasser in den Senken. Kleine Bäche und umgestürzte Bäume führen drüber. Es wird langsam wieder waldig, schmale Wege, hohes Gras. Rechts ein Blätterdach, links moosbewachsene Böden. Unsere Neugier siegt und wir machen den Abstecher zum Taubenteichbiwak.
Wir wollen uns den Platz mal anschauen und rasten. Toll hier, interessante Zuwegung und da ist er, der Teich – voll mit Pflanzen. Eine Feuerstelle ist aus der Ferne zu sehen und etwas wie ein Ikearegal mit Baumscheibenbehang. Wir packen Corny und die letzten VeggieGums aus. Unsere Neugierde zieht uns zu dem Regal. Designt von der TU Dresden. Wirklich genial: Man kann die Schlafkabinen aufklappen, die Fußrasten rausziehen und hat einen Tisch – klein, kompakt, an alles gedacht. Geile Location. Allein wegen des Biwakplatzes würden wir die Tour nochmal machen.
Gummibärchen sind alle – also -75 g. Das letzte Wasser rinnt die Kehle runter. Wie recherchiert, sollte ca. 2 km weiter eine Quelle sein. Wie die Quelle gestern Abend (vor dem Siebenlügner) suchen wir nach einem kleinen Rinnsal im Boden – also Ohren auf. Leider hat die Karte keine Höhenangaben und wir stellen fest, dass wir 1,2 der 2 km bergab gehen, was mit dem Wassergewicht im Gepäck wieder rauf recht fordernd ist. Während wir uns gegen eine neugierige Wespe durchsetzen müssen, filtere ich mit dem Bachgold das Wasser. Und ohne Mist, das ist das beste Wasser, das ich je getrunken habe. So kalt, so frisch und so genau das, was wir gerade brauchen. Wir trinken uns mit Mina wie die Schweine satt – völlig egal, wie viel wir tatsächlich aufnehmen.
3 Liter im Beutel + 0,7 in Minas Flasche + 1,5 Liter bei mir – das muss reichen. Hoch geht’s. -0,5 Liter gleich oben. Wir gehen weiter, kommen über eine Art Feld und sehen schon von weitem das strahlend weiße Jagdschloss „Kristin Hradek„.
Biergarten offen, ein wohl gekleideter Mann von 2,1 m begrüßt uns vornehm. Wir bestellen einen Kinderteller, Geflügel mit Pommes, und zwei Knoblauchsuppen. Dazu eine Fassbrause und ein Hopfengetränk. Und ohne Mist: die beste Knoblauchsuppe meines Lebens. Mit kleinen Pilzen, Kohlrabistücken, gerösteten Kartoffeln – der Hammer. Das Schnitzel bei Mina, frisch paniert, die Pommes gut gewürzt. Der Service, die Freundlichkeit und die Qualität sind absolut jeden Cent wert.

Rucksäcke auf und über den Innenhofparkplatz des Schlosses geht es wieder in den Wald. Wir merken, dass wir wieder an Höhe gewinnen und das Gelände links von uns abfällt. Über einen Wanderparkplatz mit einem riesigen Holzschild führt ein mit Sandsteinen gesäumter Weg nach oben. Nach 500 Metern habe ich das Bedürfnis, den Wasserkanister zu leeren. Es wird steiniger und steiler. Ziel ist der Sneznik (Schneeberg). Oben wartet eine Art Plateau mit märchenhaften, grasbewachsenen Pfaden. Plötzlich wird es felsig und steil. Wie zufällig hingelegte Treppenstufen ziehen wir uns an den Trekkingstöcken hoch. Mina hat eine unfassbare Kondition, sie geht den ganzen Tag schon voran und gibt Gas. „Papa, ich nehme den Abenteuerweg“, sagt sie und läuft kraftvoll weiter.

Wir erreichen das Plateau, das von Gras gesäumt ist. Der Anstieg wird leichter und plötzlich sehen wir links, wie hoch wir bereits sind. Oben erwarten uns Felsplateaus. Rast, Gipfelwolfgeheul hallt durchs Tal. Und ich erinnere mich an die Beschreibung auf Komoot: Alpenvibes auf dem Trail – und ja, so ist es. Man hat dieses schier endlose Tal vor sich, diese kleine Märklinwelt. Atemberaubend.
An dieser Stelle stehend überkommt mich eine unfassbare Zufriedenheit. Gleichzeitig zeigt der Blick auf die Uhr, dass wir weiter müssen – ca. 7 km unbekanntes Terrain vor uns, und wir wissen wegen des fehlenden Mobilfunkempfangs nicht, wie lange der Campingplatz noch offen hat.

Die sehnsüchtigen Blicke streifen oft das Tal links von uns, die Ehrfurcht wächst, während wir uns zum Abstieg begeben. Kurz den Abzweig verpasst, umgedreht und den schlecht markierten Pfad genommen. Jetzt beginnt die „rocky road to Dublin“– ein steiniger, steiler Weg nach unten. Unsere Knöchel werden es die nächsten Tage noch spüren. Wir balancieren über das Geröllfeld und laufen vorbei an Boulderern, die auf ihren Crashpads chillen. Der Kaffeeduft weckt mein Verlangen nach Kaffee. Nach einem rasanten Abstieg über das Geröll geht es auf eine Asphaltstraße – mein persönlicher Endgegner. Nichts ist öder und gleichzeitig anstrengender als sengender Asphalt.
Das Highlight ist ein Hotdog-Truck an einer Kreuzung, umschwärmt von Crashpadträgern wie ein Kiosk von Kindern mit viel zu großen Schulranzen. Ein Balken LTE – ich rufe sofort beim Autokemp in Ostrov an. Der Besitzer ist die Ruhe selbst. Er versteht mich kaum, aber auf meine Frage, ob er bis 19:30 da wäre, vermittelt er mir, dass er so lange da ist, bis wir da sind. Geiler Typ.
Ich kann Mina und vor allem mich beruhigen, wir können entschleunigen. Wir machen noch eine Rast an einer Infotafel. Ein paar Datteln und Nüsse später werfen wir mit einem „Wow“ einen letzten Blick auf die Gebirgslinie, von der wir gerade abgestiegen sind, hauchen ein „Wow“ und weiter geht’s. Ein kleiner romantischer, flacher Waldweg, bis wir auf eine kaum befahrene Straße stoßen. Die ersten Camper sehen wir bereits stehen. Ein Schild „Autokemp“ zeigt uns, dass wir gleich da sind. Ein ganzes Dorf wartet hier auf uns. Eine urige Wirtschaft, Vorfreude, und das Schild „Bin in 10 Min wieder da“. Erschöpft setzt sich Mina hin, der Rucksack bleibt auf. Eine Dame mit Dreads kommt um die Ecke mit ihrem Hund, schließt das Büro auf und bittet uns hinein. Wir tauschen uns auf Englisch aus, was mein Anliegen ist, und ich bewundere den gut ausgestatteten Store. Bücher über die Klettergebiete, sogar welche von Gerald vom Geoquest-Verlag. Kocher, Geschirr usw. – alles hier und erschwinglich. Eine Nacht, zwei Personen, ein Zelt: 9€.
Wir gehen zum Platz und stellen unser Kattvik 2.0 ratzfatz auf. Beide wollen wir heute mal eine Gönnung 2.0 starten. Mina pumpt mit dem Blowbag die Matratzen auf, ich räume die Sachen in die Apsis und lege alles bereit. Das Gelände ist etwas abschüssig, der Zeltausgang zeigt in Richtung Gefälle – besser als quer und besser als Wurzeln im Rücken, denke ich mir. Die Eindringtiefe der Heringe sagt mir, dass ausschließlich unser Gewicht dafür sorgen würde, dass das Zelt einem Sturm standhält.
Los geht’s zur Wirtschaft, vorne ist ein Tisch frei. Noch bevor die Karte den Tisch berührt, sind wir uns klar: Zweimal Knoblauchsuppe, ein Piwo und eine rote Brause, bitte in dem größten Gefäß, das ihr habt. Danach sehen wir, was es noch gibt. Die Karte ist kreativ und voll auf meine Bedürfnisse sowie Minas eingestellt. Es gibt gute Fleischgerichte, aber auch an Veganer wird gut gedacht. Ich nehme den Kichererbsensalat, Mina eine Nudelvariante, die zu unserer Überraschung aus paintballgroßen Mumpeln in einer fruchtigen Tomatensoße besteht. Seltsam, aber sehr lecker. Die vorhergehende Knoblauchsuppe wird in einer Salatschüssel geliefert. Wir sind beide sowas von satt.
Die Duschen haben bis 22:00 Uhr offen, und den Service nutzen wir. Es gibt hier Waschmaschinenräume, die Leute leben viel Freiheit. Sie gehen hier frei mit ihren Tieren umher, machen Feuer auf dem großen Platz, grillen, wo sie gerade stehen, und alle sind damit fein. Kein Genörgel, alles cool.
Wir gehen sowas von satt ins Bett. Satt und glücklich. Gegen 4:00 Uhr geht das Prasseln los. Ich merke, die Nähte sind inzwischen undicht, aber die Regenmenge ist auch ziemlich hoch. Der Boden ist zu stark verdichtet und durch den Vortag bereits gesättigt, sodass eine Wasseraufnahme nicht mehr möglich ist. Das Wasser läuft am Kopfende gegen die Unterzeltaufkantung und strömt zu den Nähten – hier dringt es bodenseitig ein. Nicht so schlimm wie damals mit meinem Wackenzelt in Krauschwitz, aber ausreichend für einen seltsamen Muffgeruch.
Ungefähr eine halbe Stunde später muss ich mit dem Schlafsack das Ventil meiner Luftmatratze aufgetreten haben, ich merke die schwindende Bequemlichkeit meiner Matratze. Ich nehme die Jacke aus dem Blowbag und pumpe die Matratze wieder auf, während ich sie über die seltsam fragezeichenförmig liegende Mina lege. Diesmal drehe ich das Ventil nach unten. Ob mir der Fauxpas unterlaufen ist oder Mina, weiß ich nicht. Ist ja auch nicht wild, und wir wollten beide in die Wirtschaft. Verständlich – alles gut. Klippklapp, Augen zu.